Seit einiger Zeit berichten deutschsprachige Medien häufiger über Katalonien. Ein
Durchbruch war die große Demonstration vom 11.9.2012, die unter dem Motto
„Katalonien, ein neuer Staat in Europa“ stand, und an der wohl über eine Million der
Bürger des 7,6-Millionen-Volkes teilnahm. Berichtet wurde auch über die
katalanischen Wahlen vom Herbst 2012. Denn eine überwältigende Mehrheit von
Abgeordneten verschiedener Fraktionen aus Regierung und Opposition setzt sich
nun dafür ein, dem katalanischen Volk das Recht zuzugestehen, die Frage nach der
Unabhängigkeit selbst zu entscheiden (dret a decidir). Auch für die Unabhängigkeit
selbst gäbe es eine absolute Mehrheit im Parlament. Während die britische
Regierung den Schotten das Entscheidungsrecht einräumte und daher 2014 dort ein
Referendum stattfinden wird, dessen Fragestellung und Zeitpunkt zwischen den
Regierungen verhandelt worden sind, ist die spanische Regierung zu einem solchen
Zugeständnis bisher aber nicht bereit.
Deutschsprachige Medien vergleichen Katalonien nicht nur mit Schottland, sondern
auch mit Flandern, Bayern und Südtirol. Häufig sprechen sie von
rückwärtsgewandter Folklore, aber auch von unzeitgemäßem nationalistischem
Egoismus, sogar von Wohlstandschauvinismus.
Ist Katalonien wirklich auf dem Weg in die Unabhängigkeit? Woher kommt eine so
breite Mehrheit für das dret a decidir? Geht es um nationalen, um ökonomischen
Egoismus, oder um Demokratie? Wird es ein Referendum geben, und wäre ein
unabhängiges Katalonien überhaupt lebensfähig?
1. Auf dem Weg zur Unabhängigkeit?
Im Januar 2013 veröffentlichten die katalanischen Medien die Ergebnisse einer
Umfrage des katalanischen öffentlichen Meinungsforschungsinstituts Centre
d’Estudis d‘Opinió. Gefragt, ob Katalonien in den nächsten Jahren ein unabhängiger
Staat in Europa werden sollte, befürworteten 49% der Befragten diese Option,
weitere 19% waren eher dafür. Wichtiger noch: 89% waren bereit, das Resultat
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eines Referendums zu dieser Frage auch zu akzeptieren! Die spanische Regierung
wehrt sich dagegen, eine solche Befragung zu veranstalten - die überwältigende
Mehrheit der Katalanen dagegen hält unabhängig von der Position in der Sache ein
solches Verfahren ganz offensichtlich für legitim.
Nach einer Wahlkampagne, die trotz der Wirtschaftskrise vor allem um das dret a
decidir kreiste, wurden mit einer Rekordwahlbeteiligung nun 74 Abgeordnete von
Parteien gewählt, die in einem Referendum für die Unabhängigkeit mobilisieren
würden. Weitere Mitglieder, vor allem Grüne und einige Sozialisten, sind ebenfalls
für das Recht auf Entscheidung als demokratisches Recht, unabhängig von ihrer
Position zur Unabhängigkeit. Eine das Recht einfordernde Resolution wurde mit 85
gegen 41 Stimmen bei 2 Enthaltungen verabschiedet.
Parteiunabhängige Organisationen der katalanischen Zivilgesellschaft wie die
Katalanische Nationalversammlung und Òmnium Cultural beweisen immer wieder,
dass sie in der Lage sind, hunderttausende, vielleicht auch mehr als eine Million
Katalanen für das Recht auf Selbstentscheidung zu mobilisieren.
2. Das Scheitern der Alternativen
Das war nicht immer so. Lange Zeit suchten die Katalanen, ja selbst die
katalanischen Nationalisten, nur nach „spanischen“ Lösungen. Schon die erste
erfolgreiche katalanistische Partei, die 1901 gegründete Lliga versuchte es mit
Regionalismus. Die Mehrheitspartei Kataloniens in der zweiten spanischen
Republik, die Esquerra Republicana de Catalunya (Republikanische Linke
Kataloniens), heute nach Sitzen die zweitstärkste Fraktion im katalanischen
Parlament, hatte ein föderalistisches Programm, bevor sie sich 1992 für
„Unabhängigkeit in Europa“ erklärte. 1976 entstand Convergència Democràtica de
Catalunya, heute mit der kleineren Unió Democràtica de Catalunya
zusammengeschlossen zur Convergència i Unió (Konvergenz und Union, CiU). Ihr
Führer Jordi Pujol lenkte die Geschicke Kataloniens zwischen 1980 und 2003 als
Regierungschef und versuchte in ständigen Verhandlungen mit Madrid, die 1979
gewährte Autonomie des Landes zu erweitern. Heute dagegen unterstützt er ein
Referendum, und er würde persönlich für die Unabhängigkeit stimmen. Artur Mas,
heute Präsident einer CiU-Minderheitsregierung, die das Entscheidungsrecht
fordert, versuchte noch 2006, ein besseres Autonomiestatut zu erreichen.
Auch in der Gesellschaft dominierten lange die autonomistischen und
föderalistischen Positionen. Doch nun, in der 10. Legislaturperiode des
katalanischen Parlaments, halten die Katalanen mehrheitlich ihr Volk für
„erwachsen“ genug, selbst über seine Zukunft zu entscheiden. Zugleich wächst die
Zahl der Befürworter der Unabhängigkeit – was nicht heißt, dass diese auf fremde
Kosten erreicht werden soll.
Das Wachsen des „independentisme“ geschah erst langsam, sein Durchbruch zu
einer die Massen mobilisierenden Alternative hängt mit dem Scheitern eines neuen
Autonomiestatuts zusammen, welches das katalanische Parlament mit einer
Mehrheit von fast 90% 2005 auf Einladung des spanischen Regierungschefs in
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Madrid vorgeschlagen hatte. Spanien ist kein Bundesstaat – ein Autonomiestatut ist
ein spanisches Gesetz. So wurde der Entwurf im spanischen Parlament verwässert,
dann schließlich aber im Jahr 2006 den Katalanen zur Ratifikation vorgelegt. Die
Volksabstimmung sanktionierte den neuen Text bei allerdings geringer Beteiligung
mit einer klaren Mehrheit von 74%. Das spanische Verfassungsgericht hat nach
langer Beratung 2010 gegen die wichtigsten Artikel dieses Statuts entschieden.
Nach Auffassung vieler Katalanen verhielt sich der Zentralstaat nicht loyal mit seiner
Autonomen Gemeinschaft Katalonien, und gar das Gericht verstieß als
nachgeordneter Letztentscheider gegen das Demokratieprinzip. Auf dem Wege der
paktierten Statuts- oder Verfassungsreform scheint es keinen Weg zu einer
Verwandlung Spaniens in einen (plurinationalen) Bundestaat mehr zu geben.
Spanien ist kein Bundesstaat wie die Bundesrepublik, die Schweiz oder Österreich.
Spaniens zweite Kammer ist politisch nur von geringer Bedeutung, auf die
Besetzung des Verfassungsgerichts haben die Autonomen Gemeinschaften
Spaniens keinen Einfluss. Diese haben auch keinen Staatscharakter, sie sind
vielmehr nur Teile des spanischen Staates. Die spanische Verfassung von 1978
erkennt keine andere Nation außer der spanischen an. Sie ermöglicht aber einige
Selbstverwaltung und im inneren Gebrauch konnte die katalanische Sprache einen
offiziellen Status erhalten.
Der Autonomiestaat erweckte auch in Katalonien lange den Eindruck, flexibel genug
zu sein, um auf dem Verhandlungswege eine erweiterte nationale Anerkennung und
eine gerechtere Finanzverteilung zu ermöglichen. Das Urteil des von der Volkspartei
und einigen sozialistischen Politikern angerufenen Verfassungsgerichts hat gezeigt,
dass diese Flexibilität nur eine scheinbare war. Die Mißachtung der erreichten
Verhandlungslösung und sogar des demokratischen Entscheids des katalanischen
Volkes haben die katalanische Zivilgesellschaft mobilisiert und den
„independentisme“ gefördert. Das Urteil überzeugte viele davon, dass eine
Anerkennung der katalanischen Nation und eine Verwandlung Spaniens in einem
Bundesstaat unerreichbar sind. Es scheint nun gerechtfertigt, dass die katalanische
Bevölkerung selbst darüber entscheidet, ob angesichts dieser Situation nun der
Weg der Unabhängigkeit beschritten werden soll.
Viele liberale Sezessionsexperten sehen die Entscheidung über die Trennung ein
grundsätzliches Recht, das nur im Einzelfall beschränkt werden kann. Der
amerikanische Sezessionsexperte Allen Buchanan vertritt dagegen eine sehr
restriktive Auffassung der gerechtfertigten Gründe für eine Sezession. Doch auch er
sieht in Spaniens wiederholter Verweigerung von erweiterten Autonomielösungen
einen möglichen Rechtfertigungsgrund für eine Trennung. In Katalonien ist das
Gefühl, alles (natürlich ausser der Gewalt) versucht zu haben, aber immer wieder
gegen die Wand zu laufen, sehr stark. Es wird ergänzt durch die Erfahrung von
ungerechter Behandlung im spanischen Staat.
3. Die Rolle von Wirtschaft und Kultur
In Katalonien erwirtschaftet 16% der spanischen Bevölkerung etwa ein Fünftel des
Bruttoinlandsprodukts (BIP) und ist für ein Viertel der Exporte verantwortlich. Ein
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ungerechtes Finanzsystem sorgt aber jedes Jahr für einen Nettoverlust von 7-9%
des katalanischen BIP; die Mittel kommen anderen, reichen und armen, Teilen des
spanischen Staats zugute. Der negative Saldo ist vor allem auf eine
unterdurchschnittliche Investition des Staates in die katalanische Infrastruktur
zurück zu führen. Madrids Flughafen, seine Eisenbahnverbindungen und seine
Autobahnen wurden unter hohem Aufwand von Steuergeldern modernisiert.
Barcelona und Valencia verbindet noch immer eine teilweise einspurige Eisenbahn.
Die Vernachlässigung der Infrastruktur schadet der katalanischen
Wettbewerbsfähigkeit. Dennoch ist Katalonien nach BIP immer noch ca. auf Rang 5
in Spanien – als Nettozahler dagegen liegt es mit an der Spitze, bei der
Ausgabefähigkeit pro Kopf dann eher am Ende (ca. Rang 10). Da die Rangfolge
nach Steuereinnahmen nicht respektiert wird, kann Katalonien weniger pro
Einwohner ausgeben als andere Autonome Gemeinschaften. Davon sind besonders
die Bürger betroffen, die auf die öffentlichen Schulen und die
Gesundheitsversorgung angewiesen sind, da sie sich private Anbieter nicht leisten
können.
Bestimmungen des Statuts von 2006, das diese aus katalanischer Sicht ungerechte
Behandlung korrigiere sollte, wurden vom spanischen Verfassungsgericht außer
Kraft gesetzt bzw. von der spanischen Regierung nicht eingehalten. Versuche, ein
neues, gerechteres Steuerregime auszuhandeln, scheiterten letztmalig im Jahre
2012. Heute erhält Katalonien von der spanischen Regierung Kredite zur
Finanzierung seines Defizits. Abgeführte Steuermittel fließen so zurück – aber
gegen Zinsen.
Allen Katalanen ist klar, dass auch nach einer etwaigen Mehrheit für die
Unabhängigkeit Verhandlungen mit der spanischen Regierung notwendig sind, um
die Activa und Passiva des spanischen Staats zu verteilen – aber dann
gleichberechtigt. Auch die für die Unabhängigkeit eintretenden Kräfte sind sich
bewusst, dass sich das Land weiter an der Rückzahlung der spanischen
Staatsschulden beteiligen muss.
Der spanische Staat hat die Finanzkraft der Katalanen stets und im Übermaß
benutzt. Dieser „Solidarität“ hat er aber auf der anderen Seite nie etwa durch die
Anerkennung der katalanischen Nation oder der Gleichberechtigung ihrer Sprache
entsprochen. Die Sprache, wichtiges Element der katalanischen Identität, kann
weiterhin in den spanischen Institutionen nicht gleichberechtigt verwendet werden.
In Katalonien dagegen ist auch die spanische Sprache offiziell. Die Rolle dieser
Weltsprache steht in der Diskussion um das Recht auf Entscheidung nicht zur
Debatte. Selbst für die Unabhängigkeit eintretende Kräfte verwenden auch das
Spanische. Der Versuch, im Statut von 2006 beide Sprachen in Katalonien bei
Rechten und Pflichten endgültig gleichzustellen, scheiterte am Verfassungsgericht.
Dagegen stellt die gegenwärtige spanische Regierung (manchmal mit Unterstützung
der obersten Gerichte) die Verwendung der katalanischen Sprache als
Unterrichtssprache (immersió) für alle Kinder, eine Maßnahme, die die
Beherrschung beider Sprachen sichern soll, nun wieder in Frage.
Während von den katalanischen Bürgern ökonomische Solidarität in einem Maße
eingefordert wird, das den Erfolg der katalanischen Wirtschaft in Frage stellt und
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besonders die auf öffentliche Dienstleistungen angewiesenen Katalanen schlechter
stellt, gibt es auf der anderen Seite keine nationale Anerkennung, und die
katalanische Sprache bleibt auf einen regionalen Rang verwiesen.
4. Gibt es ein Referendum?
Doch der lauter werdende Ruf nach einem Referendum über die Unabhängigkeit
kann nicht nur durch diese ja schon historischen Faktoren erklärt werden. Diese
Faktoren haben im Verein mit dem Scheitern des Statuts vielmehr in Katalonien
neue Energien geweckt. Während das Gericht zwischen 2006 und 2010 noch über
die Verfassungsmäßigkeit des Statuts beriet, mobilisierte sich die katalanische
Zivilgesellschaft. In rechtlich unwirksamen „Referenden“ in etwa der Hälfte der
katalanischen Gemeinden äußerten sich 2009-2011 8-900000 Bürger (jeder vierte
Wahlberechtigte) zur Frage eines verbindlichen Referendums über die
Unabhängigkeit, und zwar fast ausschließlich positiv. Dabei durften nicht nur 16-18
jährige noch nicht wahlberechtigte Katalanen, sondern auch gemeldete Ausländer
teilnehmen, auch wenn dies die Wahlbeteiligung senkte. Dies war ein wichtiges
Zeichen: weder Sprache noch ethnische Herkunft sollten von der Beteiligung am
Entscheidungsprozess ausschließen. Selbst die für die Unabhängigkeit eintretende
Kräfte wenden sich an Katalanen jeder Herkunft, Abstammung und Sprache. Offene
Grenzen, auch die Möglichkeit der Doppelstaatsangehörigkeit in einem
unabhängigen Katalonien stehen in Aussicht. Die Aufbruchstimmung in der
Zivilgesellschaft wirkte ansteckend. Neue Bewegungen und junge, für
demokratische Partizipation eintretende Kräfte entstanden innerhalb und außerhalb
der Parteien.
Trotz aller Signale von Nichtdiskriminierung, Verhandlungsbereitschaft und dem
angesichts der katalanischen Geschichte selbstverständlichen Gewaltverzicht
verweigert Spanien die demokratische Abstimmung und besteht darauf, dass
letztlich nur die gesamte Bevölkerung, die in den (wie auch anderswo) durch
dynastische Heiraten und Kriege zustande gekommenen Staatsgrenzen lebt, zur
Ausübung der Demokratie berechtigt sei. Spanien verhält sich hier anders als
Großbritannien oder Kanada. Während im Vereinigten Königreich die Anerkennung
Schottlands als Nation nie in Frage stand, was die Zulassung eines Referendums
für 2014 erleichterte, und während es in Quebec schon zweimal zu vergleichbaren
Abstimmungen über die Zukunft dieses Landes im kanadischen Bundesstaat kam,
ohne dass die Bundesregierung dagegen einschritt, erkennt Spanien die Existenz
eines katalanischen Volkes nicht an und versagt bisher die Erlaubnis zu einem
Referendum.
Das katalanische Parlament hat im März dieses Jahres die Regierung aufgefordert,
im Dialog mit der spanischen Regierung dahin zu wirken, eine Abstimmung über die
Zukunft Kataloniens zu ermöglichen.1 Am 26.7. ersuchte der katalanische
Regierungschef Artur Mas daraufhin den spanischen Ministerpräsidenten Rajoy
formell um die Aufnahme von Verhandlungen, um die Voraussetzungen einer
Volksabstimmung in Katalonien zu schaffen. Die spanische Regierung hat dies
1 Von 135 Abgeordneten stimmten nur 28 dagegen (3 Enthaltungen).
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immer abgelehnt. Statt Verhandlungsbereitschaft zu zeigen, kam es wiederholt zu
Drohungen, etwa mit der Abschaffung der Autonomie oder mit polizeilichen oder
gesetzlichen Maßnahmen, falls katalanische Institutionen eventuell auf eigener
Rechtsgrundlage das Volk zur Unabhängigkeit befragen. Daher wird nun diskutiert,
ob nicht die Unmöglichkeit der demokratischen Willensäußerung des katalanischen
Volkes in einem verlässlichen Referendum am Ende nur die Möglichkeit offen lässt,
in Katalonien Neuwahlen mit plebiszitärem Charakter und zum alleinigen Thema der
Unabhängigkeit einzuberufen, und bei entsprechender Mehrheit dann
gegebenenfalls die Unabhängigkeit zu verkünden.
5. Zur Lebensfähigkeit eines unabhängigen Kataloniens
Ein unabhängiges Katalonien wäre kein Mini-, sondern ein Mittelstaat in Europa.
Geographisch wäre es vergleichbar etwa mit der Schweiz, Belgien, Dänemark, den
Niederlanden oder der Slowakei, und es überträfe einiger dieser Staaten an
Einwohnerzahl. Das Katalanische hat mehr Sprecher als viele der offiziellen EUSprachen,
und das katalanische Pro-Kopf-Einkommen liegt über dem europäischen
Mittel. Vielfach wird behauptet, Katalonien würde im Falle der Unabhängigkeit aus
der EU ausgeschlossen. Die EU-Verträge sehen zwar den Austritt, nicht aber den
Ausschluss eines Landes vor. Die Katalanen sind seit 1986 EU-Bürger, Katalonien
erfüllt und erweitert seitdem den gemeinschaftlichen Besitzstand (acquis
communautaire) und lässt sich also nicht mit einem Beitrittskandidaten vergleichen,
der sich erst hinten an stellen müsste. Die katalanische Bevölkerung steht der
europäischen Einigung und ihrer Intensivierung positiver gegenüber als die meisten
Völker der Mitgliedsstaaten. Nur schwer kann man sich vorstellen, dass man den
Katalanen den europäischen Pass entziehen und den physischen und juristischen
Personen in Katalonien die in der EU erworbenen Rechte wegnehmen kann, wenn
die Bürger dort doch bereit und fähig sind, die damit verbundenen Pflichten zu
erfüllen; Katalonien wäre übrigens (im Gegensatz zum Rest Spaniens) Nettozahler.
Wohl nur wenige (Spanien eingeschlossen) hätten angesichts der geographischen
und internationalen Lage ein Interesse, Katalonien gegen seinen Willen aus dem
Euro auszuschließen, falls dies rechtlich möglich ginge. Auch die über 4000
internationalen Unternehmen (darunter ca. 570 deutschen) in Katalonien haben
Interesse an weiter bestehenden offenen Grenzen und einer gemeinsamen
Währung. Wichtige multinationale Unternehmen haben sich jedenfalls bisher von
der katalanischen Forderung eines dret a decidir mit dem möglichen Ergebnis der
Unabhängigkeit nicht davon abschrecken lassen, weiter in Katalonien zu
investieren, zumal wichtige Infrastrukturmaßnahmen wie der Verkehrskorridor
entlang des Mittelmeers von einer Unabhängigkeit sicher profitieren würden.
An der langfristigen ökonomischen Lebensfähigkeit eines unabhängigen
Kataloniens bestehen selbst im Falle einer zur Regelung der zukünftigen
Repräsentanz Kataloniens in den EU-Institutionen eventuell notwendigen
Übergangslösung im Verhältnis zur EU (bspw. analog der Situation Norwegens oder
der Schweiz) keine Zweifel, trotz des kurzfristig in Spanien zu erwartenden Boykotts
katalanischer Waren (es wäre nicht der erste). Schon jetzt ist der spanische Markt
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auch aufgrund der Krise dabei, seine einst überwältigende Bedeutung für die
katalanische Wirtschaft immer mehr zu verlieren.
6. Einige Bemerkungen zum Schluss
Nach den Erfahrungen einiger Balkanstaaten ist es verständlich, auch den
demokratischen Wunsch nach Unabhängigkeit erst einmal kritisch auf seine
möglichen Auswirkungen zu untersuchen. Doch die europäische Geschichte kennt
auch friedliche Sezessionen. Norwegen trennte sich 1905 friedlich von Schweden,
Island 1944 von Dänemark, Tschechen und Slowaken entschieden 1993
einvernehmlich sich zu trennen, und handelten die Bedingungen aus. 2006 trennte
sich Montenegro nach Volksabstimmung von Serbien. In diesen Fällen gab es meist
funktionierende Selbstverwaltungsorgane und Vielparteiensysteme. Diese
Bedingungen gibt es auch in Spanien, und die weitere Mitgliedschaft in der EU mit
ihren offenen Grenzen könnte unmittelbar negative Auswirkungen einer Trennung
minimieren helfen.
Man kann sicherlich kaum behaupten, dass die Unabhängigkeit neuer Staaten in
Europa schlechthin die Menschenrechts- oder Minderheitssituation verschlechtert.
Man denke an Belgien (1831), Norwegen (1905), Finnland (1917), Irland (1922/44),
aber dies gilt auch für die baltischen Staaten (1990), Slowenien, Kroatien und
Makedonien (1991) und selbst Bosnien-Herzegowina (1992) und auch für
Montenegro (2006). Fälle wie Belarus können hier kaum angeführt werden, da im
Vorgängerstaat (UdSSR) die Menschenrechte auch nicht respektiert wurden.
Spanien, das doch stolz auf seinen Übergang zur Demokratie ist, sollte sich dem
Wunsch nach einer Abstimmung über die Zukunft Kataloniens nicht länger
verschließen, und im Falle einer Mehrheit für die Unabhängigkeit in Verhandlungen
über diese eintreten.
Das Urteil des Verfassungsgerichts aus dem Jahr 2010 hat gezeigt, dass Spaniens
Verfassung für die Verwandlung in einen plurinationalen Bundesstaat nicht zur
Verfügung steht. Auf katalanischer Seite hat dies zu einem „Erwachsenenwerden“
der Gesellschaft beigetragen. Die Unabhängigkeit erscheint vielen nun plausibler,
auch legitimer als die Autonomie, die Abstimmung über diese Alternative erscheint
als demokratischer als Reformen des Statuts, die nachher einseitig wieder
einkassiert werden. Nach langen Jahren einer unbestimmten nationalen Zukunft hat
die katalanische Zivilgesellschaft nun ein mögliches Ziel, das mobilisierend wirkt und
die Bürgerbeteiligung verbessern kann. Es geht nicht mehr in erster Linie um die
Verteidigung einer in der Vergangenheit geformten Identität, sondern um
demokratische Selbstbestimmung und eine gemeinsame Zukunft. Der Wunsch nach
einer Abstimmung, die ja die Anerkennung eines katalanischen „demos“ bedeutet,
sollte nicht erschrecken, sondern als positive Entwicklung zu mehr und einer
qualitativ besseren Demokratie verstanden werden.
* Klaus-Jürgen Nagel ist Professor für Politikwissenschaft an der
Pompeu Fabra Universität in Barcelona